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Familie zwischen Tradition und Modernität in einem Vergleich zwischen Italien und Deutschland

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Zum Konzept der Pluralität der Familien

Es war einmal die Familie, eine solide Einheit, die aus stabilen Teilen bestand, ein Modell, an dem man sich orientierte und ein Ziel, das in jedem Leben zu erreichen war. Von diesem Modell ist nicht viel übriggeblieben. Einerseits bezieht man sich auf das Vorbild der Familie „Mulino Bianco“, andererseits treten neue Modalitäten in der Gesellschaft auf, um Liebesbeziehungen zu knüpfen und um sie zusammen zu halten. Dazu genügt es, an den Anstieg der Trennungen, der Scheidungen, der Singles oder der Defacto- Zusammenlebensformen und der Patchworkfamilien zu denken, die unsere Gesellschaft immer bunter machen. Heutzutage werden schon die Kinder frühzeitig mit einer Vielzahl von Systemen konfrontiert,die aus den neuen Formen von Familien hervorgehen.

Es gibt daher keine ahistorische und einheitliche Idee von Familie. Ihre Struktur und Ihre Physiognomie ändern sich im Laufe der Zeit von Generation zu Generation und je nach den Bedürfnissen und Interessen der Mitglieder, die wiederum historisch veränderlich sind.

Gemäß der italienischen Verfassung ist die Familie eine „natürliche Gesellschaft“ und sie gehört zu den unabdingbaren, wesentlichen menschlichen Grundbedürfnissen, die sich sowohl auf die Gesellschaftlichkeit, Reproduktion und Affektivität als auch auf das Bedürfnisdes Menschen nach einer Intimsphäre beziehen (Art. 29, Abs. 1). Daraus ergibt sich, dass für eine Definition des Begriffs „Familie“ die universellen Funktionen, die sie für menschliche Gruppen hat, in den Mittelpunkt gestellt werden müssen, auch wenn es schwierig fällt, ein gemeinsames Unterscheidungsmerkmal zu erkennen, das sie unter allen Umständen charakterisiert.

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Die Familie in Italien

Verglichen mit seinem ursprünglichen Modell hat sich die Familienstruktur in Italien in den letzten dreißig Jahren deutlich geändert. Das patriarchalische und landwirtschaftliche Modell brachte Eltern, Kinder und Enkel unter einem gemeinsamen Dach zusammen. Die sozialen Veränderungen in Italien, die aufgrund des Übergangs von einem überwiegend landwirtschaftlichen Land zu einem industriellen Land entstanden, haben jedoch die Spuren des alten Modells nicht vollständig verwischt. Es gibt immer noch Denk- und Verhaltensmuster, die an die traditionelle Familienform erinnern. Beispielsweise legen italienische Familien im Alltag Wert darauf, dass sie sich mindestens einmal täglich um einen Tisch versammeln. Das Abendessen ist ein wichtiger Moment,um sich miteinander zu unterhalten und in dem Eltern und Kinder die Möglichkeit haben, zusammen zu sein. Es ist außerdem nicht ungewöhnlich, dass ein Großelternteil, vor allem wenn verwitwet, mit einem seiner Söhne gemeinsam in demselben Haus  leben.

Ein weiteres Element, das die heutige Familie mit derjenigender Vergangenheit verbindet, ist die starke emotionale Bindung zwischen den Mitgliedern, auch wenn diese einen eigenen separaten Haushalt führen. Die Italiener sind häufig bereit, ihren Verwandten zu helfen, zum Beispiel bei der Betreuung von Kleinkindern und der häuslichen Arbeit der neuen Familie.

Das aktuelle Konzept der Familie unterscheidet sich allerdings erheblichvom Ehemodell der 50er und 60er Jahre, das auf einer rigorosen Rollenverteilung seiner Mitglieder (Mann als „Breadwinner“ und Jäger, der Mittel für den Familienunterhalt; Frau, die, sich mit der Hausarbeit und der Kinderbetreuung beschäftigt) basierte. Im Laufe der Jahre haben italienische Familien einen tiefgreifenden Wandel in der Struktur, in den Beziehungen zwischen ihren Mitgliedern und in den Werten durchgemacht. Für die meisten europäischen Länder begann der große Wendepunkt in der Mitte der 60er Jahre. Diese Zeit wurde, wenn auch mit unterschiedlichen Zeiten und Rhythmen, von zwei klaren demographischen und familiären Tendenzen geprägt: der Verringerung der Geburtenraten und der Zunahme der ehelichen Instabilität. Damit verbunden ist die rasch fortschreitende Verbreitung eines Lebensgemeinschaftsmodells der „Familiengründung“ (Alternative zur Ehe) und die Zunahme der Anzahl nichtehelicher Kinder. Aber die wirklichen Protagonisten des Wandels und des neuen demografischen und familiären Verhaltens waren Frauen und ihr massiver Eintritt in die Arbeitswelt,sowie die Entwicklung der feministischen Bewegung und der Zugang zu gleichen oder höheren Bildungsstufen als die der Männer.

Heute gehört Italien mit einer Geburtenrate von 1.24 zu den europäischen Ländern, die insgesamt die niedrigsten Geburtenzahlen haben (gemäß dem ISTAT Bericht über die Bevölkerung von Belpaese). Vier von zehn Familien haben keine Kinder und 26% der Familien haben nur eines. Nach Einschätzung des römischen Forschungsträgers nehmen die Scheidungen (+230 %) und die Anzahl der Singles (8,4 Millionen +110 %) zu, bröckelndie Ehen (von -40,5%, 191.000) zu Gunsten von nichtehelichen Lebensgemeinschaften. Derzeit machen Familien, die aus Paaren mit Kindern bestehen, 33% der Bevölkerung aus und ihre maximale Inzidenz wird vor allem im Süden (38,6%) und auf den Inseln (35,9%) verzeichnet. Die italienische Familie besteht im Durchschnitt aus drei Personen.

Trotz der kleinen Familiengemeinschaft haben Italiener immer noch eine traditionelle Vorstellung von Familie. Sie beschreiben sie zwar als sicheren Hafen, aber gleichzeitig modern und offen. Italiener stellen die Familie als einen festen Lebensmittelpunkt dar, der ihnen Orientierung bieten kann, auch wenn sie diese als instabil empfinden und sich Sorgen um die Zukunft machen. Gemäß einer Recherche der Versicherungsgesellschaft BNP in Bezug auf den Arbeitsbereich fangen Frauen damit an, unternehmerische Rollen einzunehmen und als Managerinnen tätig zu werden. Doch der Weg zur ehelichen Gleichberechtigung ist noch lang. In Bezug auf die Erziehung von Kindern hat im Laufe der Jahre eine radikale Veränderungstatt gefunden, indem man von Gehorsam und Anpassung an die Regeln zur Förderung der Autonomie und individueller Persönlichkeit übergegangen ist. Das Profil des Elternteils, der als „Lehrer“ wahrgenommen wird, verliert zugunsten des Profils von „Freund des Kindes“. Die Bindung zur Herkunftsfamilie bleibt sehr stark. Es bleibt ein gegenseitiger Austausch von Aufmerksamkeit und Fürsorge, auch wenn man heute getrennt vom Herkunftshaus lebt. Die Nachhaltigkeit und die finanzielle Sicherheit stellen kritische Faktoren dar, die über die Jahre beständig bleiben. Vor allem fürchten Familien den Verlust von Arbeitsplätzen oder dem Wegfall bisheriger Einkommensquellen. Sorgen bereiten auch Diebstähle, Überfälle, Raubüberfälle sowie allgemein familiäre Gewalt. In Bezug auf die Konsumgewohnheiten fällt auf, dass 8 von 10 Familien im letzten Jahr auf Etwas (z.B. Produkte für ihre Pflege oder für ihre Freizeit) verzichten mussten.  Während die Frauen insgesamt für den Einkauf von Lebensmitteln zuständig sind, beschäftigen sich die Männer eher mit dem Erwerb von Gütern und Dienstleistungen in den Bereichen Technik, Finanzen oder Versicherungen.

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Die Familie in Deutschland 

Das Konzept von Familie in Deutschland basiert, wie in Italien, auf dem Modell der Kernfamilie. Es berücksichtigt die Anwesenheit von zwei durch die Ehe verbundenen Erwachsenen und das Zusammenleben der Mitglieder im gleichen Haus. Dieses Modell, das durch eine starke Rollenteilung gekennzeichnet ist, überwog bis 1975 vor allem in der Bundesrepublik Deutschland, während der Prototyp einer sozialistischen Familie, in dem beide Elternteile arbeiteten, zur selben Zeit in Ostdeutschland vertreten war.

Seit den 70er-Jahren verbreiten sich neue Formen des Zusammenlebens im ganzen Bundesgebiet, die Familien mit deutschen Mitgliedern nehmen ab und die Einwanderer als Familienmitglieder nehmen zu. Obwohl die Sozialpolitik in Deutschland dazu neigt, die deutschen und ausländischen Familien zu entlasten, vor allem diejenigen die viele Kinder haben, gibt es heute große Schwierigkeiten, einen Platz im Kindergarten zu finden, da die Bevölkerung sich auf die großen Städte konzentriert. Zu den Hauptsorgen der Paare, die in Deutschland ein Kind haben wollen, zählt auch die fehlende Unterstützung durch die Herkunftsfamilie und die kaum umsetzbare Vereinbarkeit zwischen Beruf und Familie.

Deutschland besitzt derzeit eine Geburtenrate von 1,57 und die Mütter sind im Durchschnitt 29,8 Jahre alt. Einer Studie des Statistisches Bundesamts zufolge liegt, neben der Entwicklung von alternativen Formen der Familie, eine Tendenz zu einer Schrumpfung der Familiengemeinschaft in Deutschland vor. Während es nach der Wiedervereinigung beständig 2-3 Kinder pro Familie gab, hat die Anzahl der Kinder pro Familie abgenommen. 1975 bestanden 13 Prozent der Familien aus einem Paar mit drei Kindern, 2011 sank die Quote auf 9 Prozent. Gleichzeitig sind die Anteile der Familien mit einem Kind und der kinderlosen Frauen über die Jahre gewachsen.

Die Familie spielt nach wie vor eine sehr wichtige Rolle in der Gesellschaft für die Mehrheit der Deutschen, auch wenn sie im Laufe der Jahre an Wert verloren hat. Das Bundesinstitut für die Bevölkerungsforschung (BiB) hat in einer Umfrage unter 5000 jungen Menschen zwischen 20 und 39 Jahren die Leitbilder, die das Leben in deutscher Familien inspirieren, untersucht. Die erzielten Ergebnisse sind sehr aufschlussreich:

  • Für 85% der Befragten gehören zu einer Familie Kinder. Die Probanden stimmen zu, dass die Rahmenbedingungen, um ein Kind zu bekommen, im Westen und im Osten des Landes unterschiedlich sind („Die qualifizierten Frauen des Westens tendieren besonders dazu, kinderlos zu bleiben“).
  • Die primäre Familienpolitik ist ein kritisches Thema für die Generationen potenzieller Eltern. Das Problem der Vereinbarkeit von Beruf und Familie nährt die Unzufriedenheit deutscher Frauen. Diese empfinden die Kluft zwischen ihrem eigenen Familienleitbild, das sich auf die Rolle von Mutter und Arbeiterin (mit einer 30 Stunden-Arbeitswoche und der Aufteilung von der Hausarbeit und der Kinderbetreuung) bezieht und der Wirklichkeit, als negativ.
  • Die Verteilung der Arbeit in der Familie stellt sich inhomogen dar: 75% der Befragten gaben an, dass das „Modell der Vollzeit“ für den Vater und des zusätzlichen Einkommens für den Partner, beziehungsweise die Mutter, besonders im Westdeutschland überwiegt.
  • Für die deutsche Jugend ist es selbstverständlich, dass die Frauen von heute arbeiten und ihr eigenes Geld verdienen sollen. Sie sagen aber auch, dass die höheren Erwartungen eine nicht zu unterschätzende psychologische Belastung der jungen Frauen darstellen.

Wie die BiB-Forschung feststellt, gehören Kinder zu dem Klischee, das die Deutschen von der Familie haben. Tatsächlich stellen sich 100% der Befragten unter einer Familie ein Ehepaar mit Kindern vor. Auch nicht verheiratete Paare mit Kindern verdienen ungefähr die gleiche Anerkennung (97%), während gleichgeschlechtliche Paare mit ihren Kindern, sowie gemischte Familien und Alleinerziehende mit Kindern etwas weniger (88% bzw. 82%) Akzeptanz finden. Zu einer Familie gehören also Kinder und die Befragten im jüngeren Alter (85% der Probanden) äußern dabei auch den Wunsch, in der Zukunft eigene Kinder haben zu wollen. Diese Erwartungen stimmen jedoch nicht mit den tatsächlichen Daten überein. Außerdem weichen die Vorstellungen von dem, was „Familie“ bedeutet, je nach Alter der befragten Personen erheblich voneinander ab. Psychologen weisen – besonders inder Gruppe der 30-40jährigen -auf die Entstehung einer „Kultur des Zögerns“ hin, die sich in einem erhöhten Widerstand der jungen Generation äußert, daran teilzunehmen. Ab circa dem 30. Lebensjahr wird ein Umdenken potenzieller Eltern hinsichtlich des Themas „Familie“ erkennbar, vor allem in der Gruppe der Akademiker. Die mit der Arbeitswelt verbundenen Schwierigkeiten, die Karriere und die unsichere finanzielle Lage sind Faktoren, die das Projekt der Familiengründung behindern. Die weit verbreitete Tendenz besteht darin, die Zeit bis zur eigenen Familiengründung zu verlängern oder die Entscheidung treffen, auf Kinder zu verzichten oder, sogar die zeitlichen Grenzen zu überschreiten, um Kinder zu bekommen. Nach Angaben des Statistischen Bundesamtes aus dem Jahr 2012 bleiben 30% der Deutschen kinderlos. Vor allem sind es die am häufigsten stressbelasteten Akademiker, die die richtige Zeit für die Reproduktion (Rushhour) verstreichen lassen.Westdeutschland ist weltweit eines der Länder mit dem höchsten Anteil von kinderlosen Frauen. Ohne Kind zu sein scheint laut der BiB-Umfrage eine normale Sache zu sein und ist auch gesellschaftlich akzeptiert.

Fazit

Insgesamt haben die untersuchten Studien gezeigt, dass die Familie nach wie vor eine wichtige Rolle sowohl für Italien als auch für Deutschland spielt, auch wenn sie deutlich Änderungen in ihrer Struktur durchgemacht hat. Die Vorstellung von Familie, die beide Nationen davon haben, ist ein Ehepaar mit Kindern. Aus dem Vergleich zwischen beiden Kulturen ergibt sich hinsichtlich der Dimension „Herkunftsfamilie“ ein interessantes Resultat. Während es in Italien in den letzten 30 Jahren eine starke Bindung mit der Familie gab, die bis heute als Ressource wahrgenommen wird, ist in Deutschland die Art der Beziehung zu ihr schwächer. Die jungen deutschen Paare befürchten, dass sie keine Unterstützung von ihren engeren Verwandten bekommen, was ein Grund für Sorge ist, wenn sie ihre eigene Familie gründen wollen. Das gilt besonders in Städten mit einer hohen Bevölkerungsdichte, in denen es schwierig ist, eine (bezahlbare) Wohnung in räumlicher Nähe zueinander zu finden.

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Abschluss in dynamischer klinischer Psychologie an der Universität von Padua. Leidenschaft für Reisen und Natur. Sie war mehrmals eine „Jonas-Reisebegleiterin“ bei Reisen zu Fuß oder mit dem Fahrrad Sie arbeitete mit der NRO "Amici dei Popoli" in Projekten für die Sprachförderung für Schulen zusammen. Seit 2014 lebt sie dauerhaft in Deutschland, wo sie als Psychologin im Bereich der Unterstützung benachteiligter Minderjähriger tätig ist. Gleichzeitig veröffentlicht sie psychologische Informationsartikel auf dem Gesundheitsportal „Medicitalia“. https://www.studiovarotto.com

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